Über drei Jahre lang hielt COVID-19 die Welt in Atem. Inzwischen, so wird angenommen, ist die Pandemie in die endemische Phase übergegangen. Die Begriffe „endemisch“ oder „Endemie“ bezeichnen einen Zustand, in welchem die Infektionswellen abflachen und somit die gesundheitlichen Auswirkungen für einen Großteil der Bevölkerung weniger gravierend sind. Die Grundlage hierfür ist eine breit vorhandene Immunität durch Impfungen und/oder überstandene Infektionen. Diese sorgt für weniger Ansteckungen und mildere Verläufe, da das Immunsystem den Erreger bereits kennt und somit schneller und besser auf eine Infektion reagieren kann.
Vor ein paar Monaten ist der rechtliche Rahmen für die letzten noch verbliebenen Corona-Maßnahmen, etwa das Tragen eines Mund- und Nasenschutzes in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen, ausgelaufen. Blickt man sich dieser Tage um, beispielsweise im Supermarkt oder öffentlichen Nahverkehr, sieht man vereinzelt noch Menschen, die freiwillig weiterhin eine Maske tragen. Die meisten jedoch scheinen sich keine großen Gedanken mehr um das Coronavirus zu machen; sie sind in ihren gewohnten Alltag zurückgekehrt, gehen unbeschwert ins Kino, zu Konzerten, verreisen … Und wer kann es ihnen nach der langen Zeit verübeln? Doch die meisten Menschen sind nun mal nicht alle: Es ist wichtig, sich bewusst zu machen, dass es viele Menschen gibt, die seit ihrerCOVID-19-Erkrankung mit vielfältigen gesundheitlichen Langzeitfolgen kämpfen. Was hat es mit dem Phänomen Long-/Post-Covid-Syndrom auf sich?
Viele an COVID-19 erkrankte Menschen – man geht von mindestens 10 Prozent aus –leiden auch noch Wochen oder Monate nach ihrer Infektion mit dem SARS-CoV-2-Virusan körperlichen, geistigen (kognitiven) und psychischen Beeinträchtigungen. Darunter sind auch Personen mit mildem, mittelschwerem oder gar symptomfreiem Verlauf.
Diese Langzeitfolgen werden laut Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO)unter den Begriffen Long-Covid-Syndrom und Post-Covid-Syndrom zusammengefasst. Was ist der Unterschied zwischen den beiden? Beschwerden, die mehr als vier Wochen nach der Infektion fortbestehen, sich verschlechtern oder neu auftreten, werden als Long-Covid bezeichnet. Bestehen die Beschwerden noch nach drei Monaten und halten mindestens zwei Monate lang an oder kehren wieder, spricht man von Post-Covid. Die Diagnose Long-/Post-Covid-Syndrom erhalten also Personen, die statistisch als vonCOVID-19 genesen gelten, aber infolge ihrer Erkrankung gesundheitliche Langzeitfolgen entwickelt haben.
Es ist jedoch nicht einfach, Long-/Post-Covid sicher zu erkennen. Denn die Erkrankung äußert sich durch eine Vielzahl von komplexen Beschwerden, die in ihrer Dauer und Intensität häufig sehr unterschiedlich sind und auch auf andere Krankheitsbilder zutreffen können.
Zuden häufigsten Symptomen von Long-/Post-Covid gehören beispielsweise:
Laut der WHO handelt es sich bei Long-/Post-Covid um einen Krankheitszustand, der von einer deutlich eingeschränkten körperlichen und geistigen (kognitiven)Belastbarkeit gekennzeichnet ist: Bereits nach geringfügiger Anstrengung verschlechtern sich die Beschwerden der Betroffenen. Diese Verschlechterung kann für mehrere Tage oder Wochenanhalten oder gar zu einer dauerhaften Zustandsverschlechterung führen. Häufig sind die Betroffenen nicht mehr in der Lage, ihren Berufs- und Alltagstätigkeiten in gewohntem Umfang nachzugehen. Fachsprachlich wird dies Belastungsintoleranz oder auch Post-Exertionelle Malaise(PEM) genannt.
Die PEM ist auch das Hauptsymptom für die Myalgische Enzephalomyelitis/das Chronische Fatigue-Syndrom (ME/CFS).Diese schwere neuroimmunologische Erkrankung beginnt oft nach einem Infekt. Siebetrifft einen bedeutsamen Teil der Long-/Post-Covid-Patient*innen. Neben einer schweren krankhaften Erschöpfung und einer ausgeprägten PEM umfassen die Symptome von ME/CFS kognitive Störungen, Muskelschmerzen, eine Überempfindlichkeit auf Sinnesreize sowie eine Störung des Immunsystems und des autonomen Nervensystems. „Das Problem ist, bildlich gesprochen, dass die Batterien nicht mehr aufgeladen werden. Gesunde Menschen regenerieren sich schnell, haben nach kurzen Ruhephasen oder spätestens über Nacht wieder neue Energie. Das funktioniert bei Menschen mit dem Long-Covid-Syndrom beziehungsweise dem CFS nicht.“, so Dr. Bernhard Dickreiter, Facharzt für Innere Medizin, Rehabilitative Medizin und physikalische Therapie. ME/CFS führt bei etwa 60 Prozent der Betroffenen zur Arbeitsunfähigkeit; auch Bettlägerigkeit und Pflegebedürftigkeit sind mögliche Folgen.
Grundsätzlich kann jede Person, die sich mit demSARS-CoV-2-Virus infiziert, gesundheitliche Langzeitfolgen entwickeln. Man geht jedoch davon aus, dass bestimmte Faktoren das Risiko für eine Long-/Post-Covid-Erkrankung erhöhen:
Auch Kinderund Jugendliche können an Long-/Post-Covid erkranken. Im Vergleich zu Erwachsenen scheinen sie jedoch weniger häufig betroffen zu sein, wobei die wissenschaftliche Datenlage in dieser Altersgruppe noch eingeschränkt ist.
Interessant ist auch die Frage, inwiefern Corona-Impfstoffe einer Long-/Post-Covid-Erkrankung vorbeugen können. Erste Studien weisen darauf hin, dass eine vollständigeSARS-CoV-2-Schutzimpfung das Risiko teilweise reduziert. Dennoch gibt es Fälle, in denen es trotz Impfung zu einer Ansteckung kommt – genannt Durchbruchsinfektion – und Long-/Post-Covid-Beschwerden auftreten.
Gezielte Behandlung bislang nicht möglich
Zu den Spätfolgen bzw. Risikofaktoren, Krankheitsmechanismen und Behandlungsmöglichkeiten des Long-/Post-Covid-Syndroms gibt es bislang nur wenige gesicherte Erkenntnisse.
Es ist bisher nicht möglich, die Ursache der Erkrankung selbst zu bekämpfen. Die Betroffenen gelten also als chronisch erkrankt, ohne dass sie aktuell geheilt/gezielt behandelt werden können. Es gibt jedoch verschiedene Maßnahmen, die darauf abzielen, die Beschwerden zu lindern und die Genesung zu unterstützen, beispielsweise:
Zu beachten ist, dass nicht jede Maßnahme für jede*n Betroffene*n geeignet ist. Vielmehr sollte sich die Behandlung nach den jeweiligen gesundheitlichen Beschwerden richten und an die individuelle Situation und Belastbarkeit angepasst werden. Häufig erfolgt die Behandlung über die Hausarztpraxis. Bei bestimmten Beschwerden können die Betroffenen auch an andere Facharztpraxen oder in eine Reha-Klinik überwiesen werden.
Auch der Austausch mit anderen Betroffenen kann hilfreich sein. So gibt es beispielsweise Long-/Post-Covid-Selbsthilfegruppen in der jeweiligen Umgebung oder auch auf Facebook.
Eine Long-/Post-Covid-Erkrankung kann die Lebensqualität erheblich beeinträchtigen. Das zeigen beispielsweise die folgenden Beiträge von Betroffenen:
Doch es sind nicht nur die Beschwerden an sich, die Menschen mit Long-/Post-Covid schwer zu schaffen machen können. Wie bereits erwähnt, ist die Krankheit noch größtenteils unerforscht. Die vielen Fragezeichen, etwa hinsichtlich der Symptome, von denen viele nicht organisch nachgewiesen werden können, lösen beiden Betroffenen große Unsicherheit, Angst bis hin zu Hoffnungslosigkeit aus. Zudem haben sie zur Folge, dass viele der Erkrankten bei ihren Mitmenschen, seien es Kolleg*innen, der Arbeitgeber, Freund*innen oder gar Ärzt*innen, auf Unverständnis stoßen. Sie fühlen sich nicht ernstgenommen – so als wären sie gar nicht wirklich krank, als würden sie sich all das nur einbilden und müssten sich einfach nur mal „zusammenreißen“. Dies belastet die Betroffenen psychisch enorm, wodurch ihr ohnehin schon großer Leidensdruck weiter zunimmt.
Das Long-/Post-Covid-Syndrom wird weltweit intensiv erforscht, um die aktuellen Wissenslücken schnellstmöglich zu schließen. Auch Deutschland trägt dazu bei: So fördert beispielsweise das Bundesforschungsministerium (BMBF)seit Mai 2021 zehn verschiedene Forschungsverbünde. Ein Teil der Projekte widmet sich vielversprechenden Behandlungsansätzen, darunter medikamentöse Therapien, Ergotherapie und ein individuell zugeschnittenes Bewegungsprogramm. Andere Projekte erforschen die spezifischen Versorgungsbedarfe von bestimmten Patientengruppen, etwa von Kindern und Jugendlichen, um künftige Angebote noch besser zuschneiden zu können.
Hinsichtlich medikamentöser Long-/Post-Covid-Behandlungsoptionen ist beispielsweise das Forschungsprojekt „reCOVer“ zu erwähnen. Dessen Ziel besteht unter anderem darin, die Substanz BC 007 als möglichen therapeutischen Ansatz zu untersuchen. Hintergrund dieses Vorhabens ist die Vermutung, dass sogenannte Autoantikörper für bestimmte Long-/Post-Covid-Symptome verantwortlich sind. Das Medikament BC 007 soll diese krankmachenden Autoantikörper blockieren. Vor ein paar Wochen hat Phase II der klinischen Studie begonnen. Diese soll aussagekräftige und belastende Ergebnisse zur Wirksamkeit und Verträglichkeit von BC 007 bei Long-/Post-Covid-Patient*innen liefern. Erste Ergebnisse werden voraussichtlich Anfang 2024 vorliegen – wenn diese positiv ausfallen, wird eine größere Phase-III-Studie folgen, welche für eine Zulassung von BC 007 erforderlich ist.
Das Coronavirus SARS-CoV-2 ist endemisch geworden; es tritt also weiterhin bzw. nun dauerhaft in der Bevölkerung auf, jedoch mit geringeren Infektionszahlen und weniger schweren gesundheitlichen Auswirkungen. Es ist nur verständlich, dass das Thema bei den meisten Menschen stark in den Hintergrund gerückt ist, diese den Wegfall der Corona-Regeln als befreiend empfinden und wieder ihrem gewohnten Alltag nachgehen.
Dennoch oder gerade deshalb ist es wichtig, sich bewusst zu machen, dass es auch viele Menschen gibt, die infolge ihrerCOVID-19-Erkrankung an komplexen gesundheitlichen Langzeitfolgen leiden und daher weiterhin vorsichtig sein müssen. So betont beispielsweise die Berliner Moderatorin Visa Vie (mit bürgerlichem Namen Charlotte Mellahn):"Ich bin durch meine Infektion zur Risikopatientin geworden." Die36-Jährige infizierte sich Ende 2021 mit dem Coronavirus und leidet seitdem an Long- bzw. Post-Covid. Bei ihr entwickelten sich mehrere Folgeerkrankungen, darunter Diabetes Typ 1 und eine chronische Herzmuskelentzündung. Visa Vie möchte über Long-/Post-Covid aufklären, „[…] der Krankheit ein Gesicht gebe[n]“.So spricht sie beispielsweise in dem siebenteiligen Podcast „Fighting Long Covid“ sehr offen über ihr Leben mit den Langzeitfolgen.
Auch die Berliner Autorin und Spiegel-Online-Kolumnistin Margarete Stokowski spricht öffentlich über ihre Long- bzw. Post-Covid-Erkrankung. So weist die 37-Jährige unter anderem daraufhin, welche Folgen eine erneute Ansteckung mit dem Coronavirus für die Betroffenen haben kann:
„[…] Aktuell muss ich viele Tageliegen und kann nur sehr wenig … leben. […] Als ich angepisst war wegen des Endes der Maskenpflicht, haben sich so krass viele Leute lustig gemacht, aber Fakt ist: Eine zweite Infektion könnte bedeuten, dass es noch schlimmer wird und ich ein richtiger Pflegefall werde und das gilt nicht nur für mich, sondern für viele. […]“
Alles in allem ist also festzuhalten: Eine Long-/Post-Covid-Erkrankung kann den Betroffenen körperlich, geistig und psychisch schwer zu schaffen machen. Daher muss das Phänomen dringend weiter erforscht werden, um den aktuellen Mangel an gesicherten Erkenntnissen, insbesondere hinsichtlich der Behandlungsmöglichkeiten, zu beheben. Darüber hinaus ist es wichtig, dass Außenstehende sich die Situation der Erkrankten vor Augen führen. Die häufig enorm belastenden Beschwerden sollten nicht heruntergespielt oder gar geleugnet werden. Stattdessen gilt es, die Betroffenenernst zu nehmen und ihnen mit Verständnis sowie Rücksicht zu begegnen – denn auch dies kann, zumindest ein Stück weit, zur Verbesserung ihres Gesundheitszustands beitragen.
*Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wurden die Zitate in diesem Blogbeitrag hinsichtlich Rechtschreibung und Grammatik angepasst.
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