Neuropathische Schmerzen, auch Neuropathien oder Nervenschmerzen genannt, sind keine „normalen“ Schmerzen – ihre Behandlung gilt als komplex und herausfordernd. Derzeit wird im Auftrag der Algiax Pharmaceuticals GmbH eine vielversprechende Phase-II-Studie durchgeführt: Die Hoffnung liegt auf einem neuen Wirkstoff namens AP-325. Wir bei emovis freuen uns, eines der vielen Studienzentren zu sein, die sich an dieser Studie beteiligen dürfen.
Lesen Sie den ersten Teil unseres Interviews mit Herrn Dr. Guido Koopmans, Entwickler von AP-325 und Auftraggeber der dazugehörigen Studie: Darin erfahren Sie unter anderem, was seinen Wirkstoff so besonders macht und welche Forschungsergebnisse dazu bereits vorliegen.
Was genau sind neuropathische Schmerzen? Wie äußern sie sich, wodurch unterscheiden sie sich von „normalen“ Schmerzen?
Beim „normalen“ Schmerz – fachsprachlich nozizeptiver Schmerz genannt – handelt es sich um ein uns schützendes Warnsystem. Wenn wir beispielweise mit unserer Hand in die Nähe einer Kerzenflamme kommen, deren Hitze spüren, dann teilt uns der Schmerz mit: „Zieh deine Hand weg, sonst verbrennst du dich!“ Im Vergleich dazu sind Nervenschmerzen kein Schutzmechanismus, sondern letztendlich eine Krankheit an sich. Im Grunde handelt es sich dabei um eine falsche Anpassung vom Körper an die Nervenverletzung. Diese falsche Anpassung beruht darauf, dass die Nervenzellen plastische Prozesse, also Veränderungsprozesse, durchlaufen: Die verletzten Nervenfasern versuchen, wieder herauszuwachsen, neue Verbindungen herzustellen. Dabei kann es zu einer Falschvernetzung oder Falschwiedergabe von dem, was von der betroffenen Person eigentlich gespürt wird, kommen. So lässt sich erklären, dass das, was die Person einst als Druck wahrgenommen hat, auf einmal als schmerzhaft empfindet. Neuropathische Schmerzen können so schlimm sein, dass beispielsweise bereits das Tragen eines T-Shirts oder eine normale Wassertemperatur beim Duschen an der entsprechenden Körperstelle unheimlich weh tut.
Wodurch wird die Stärke neuropathischer Schmerzen bestimmt? Spielt die Dauer eine Rolle?
Das ist ganz schwierig zu sagen. In der wissenschaftlichen Literatur findet sich kein eindeutiger Hinweis, dass die Stärke mit der Dauer zu tun habe. Es ist bekannt, dass der Schmerz bei einer wirklich starken Verletzung sehr oft sehr stark ist – zum Beispiel bei einer kompletten Durchtrennung eines Nervs oder mehrerer Nerven oder bei einer Amputation, also der Abtrennung eines Körperteils. Aber bei manchen Menschen kann man kaum einen Hinweis feststellen, dass ein Nerv verletzt ist, und trotzdem haben sie ganz starke Schmerzen. Das zeigt, dass Schmerz bzw. Schmerzwahrnehmung generell eine sehr individuelle Erfahrung ist – sie unterscheidet sich von Person zu Person. Lassen Sie mich das weiter veranschaulichen: Algiax hat drei Studien der Phase I, also Studien mit gesunden Personen, durchgeführt. Diese Art Teilnehmer*innen nennt man übrigens Proband*innen, während an der jeweiligen Erkrankung leidende Teilnehmer*innen als Patient*innen bezeichnet werden. Jedenfalls haben wir in der dritten Phase-I-Studie 16 jungen, gesunden Proband*innen Capsaicin am Unterarm unter die Haut gespritzt. Dabei handelt es sich um einen der weltweit schärfsten Stoffe; man findet ihn beispielsweise in der Paprika, in Chilischoten oder im roten Pfeffer. Das Capsaicin führte zu einer Schmerzüberempfindlichkeit. Wir haben die Proband*innen dann gebeten, die Schmerzstärke anhand einer Skala von 0 bis 100 zu beurteilen. Tatsächlich hat eine Person den Schmerz als maximal 8, also kaum schmerzhaft, empfunden. Aber es war auch eine Person dabei, die 100 angegeben hat, die sich also keinen schlimmeren Schmerz vorstellen konnte. Sie sehen: Jeder Mensch hat seinen eigenen Schmerz-Schwellenwert, das ist eine Schwierigkeit bei der Behandlung.
Im Rahmen Ihrer Arbeit bei der Algiax Pharmaceuticals GmbH haben Sie den Wirkstoff AP-325 entwickelt. Dieser zielt darauf ab, nach einer Operation aufgetretene Nervenschmerzen – sogenannte postoperative Nervenschmerzen – zu behandeln. Der Wirkstoff wurde bereits in Labor- und Tierversuchen sowie in einer Phase-I-Studie am Menschen untersucht. Welche Ergebnisse brachten diese Untersuchungen?
Wir haben AP-325 in den vorklinischen Schmerzmodellen ausführlich untersucht. In diesen wird meistens bei Ratten ein peripherer Nerv verletzt. Periphere Nerven befinden sich außerhalb von Gehirn und Rückenmark – ein Beispiel hierfür ist ein Beinnerv. Nach einer Woche Behandlung mit AP-325 wurde der Schmerz dieser Tiere gelindert und diese Linderung hielt relativ lange an – das ist hochinteressant. Nun versuchen wir, diese Ergebnisse auch beim Menschen zu zeigen. Dies wäre ja ein Unique Selling Point (= Alleinstellungsmerkmal): Wirksamkeit zeigen und das vielleicht über eine längere Zeit, ohne dass große Nebenwirkungen zu erwarten sind. Dadurch würde sich unser Wirkstoff von derzeit gegen Nervenschmerz eingesetzten Wirkstoffen deutlich abheben.
In unserer Phase-I-Studie haben wir den gesunden Proband*innen zunächst nur eine Dosis AP-325 gegeben. Dann sind wir weitergegangen bis hin zu einer mehrmaligen Gabe über 7 Tage lang. Dabei haben wir auch gesehen, dass der Wirkstoff gut vertragen wird: Die Proband*innen haben keine Nebenwirkungen wie Müdigkeit, Benommenheit oder Schwindel berichtet – alles negative Begleiterscheinungen, die schon zugelassene Schmerzmittel wie Pregabalin auslösen. Lediglich einmal erhielten wir Meldung über einen leicht erhöhten Blutdruck. Alles in allem verlief die Phase-I-Studie also erfolgreich.
Aktuell wird AP-325 an mehreren Studienzentren im Rahmen einer Phase-IIa-Studie weiter erforscht. Bitte beschreiben Sie die Zielgruppe dieser Studie.
Neuropathien gehen ja auf eine Beschädigung des Nervensystems zurück. Zu dieser kann es beispielsweise während einer Operation kommen. Manche Menschen reagieren auf diese Beschädigung und entwickeln Nervenschmerzen, aber einige auch gar nicht – das ist sehr unterschiedlich. Unsere Studie richtet sich an Patient*innen, die seit einer Operation an peripheren neuropathischen Schmerzen leiden. Hierzu haben wir drei große Gruppen operativer Eingriffe ausgewählt, welche relativ häufig neuropathischen Schmerz nach sich ziehen: Operation an der Brust und Achselhöhle zur Behandlung von Brustkrebs, Operation am Rumpf, etwa bei Lungenkrebs oder im Rahmen einer offenen Herzoperation, und Operation aufgrund von Leistenbruch. Unsere Studie wird in Deutschland, Spanien und Tschechien durchgeführt – derzeit beteiligen sich 17 Studienzentren/Institutionen – und insgesamt möchten wir 94 Patient*innen aufnehmen.
Wie läuft die Teilnahme an Ihrer Studie ab?
Mögliche Patient*innen durchlaufen zunächst eine sogenannte Screening-Phase: In dieser untersuchen wir, ob sie gemäß der Ein- und Ausschlusskriterien der Studie geeignet sind. Hierbei fragen wir auch, ob sie bereit seien, während der gesamten Teilnahme auf ihre derzeitigen Schmerzmittel zu verzichten und nur noch auf Paracetamol als Notfallmedikament zurückzugreifen – dieses kommt zum Einsatz, falls sie auf AP-325 nicht ausreichend ansprechen. Nach einer Woche registrieren wir den Ausgangsschmerz der Patient*innen. Hierfür sollen sie in einem Tagebuch die Stärke ihres Schmerzes anhand einer 11-Punkte-Skala aufführen. Patient*innen, deren durchschnittlicher Wert im vorgegebenen Rahmen liegt, werden per Zufallsprinzip einer Gruppe zugeteilt – das nennt man Randomisierung. Je nach Gruppe erhalten sie 10 Tage lang entweder AP-325 oder ein Placebo, also ein Medikament ohne medizinische Wirkstoffe. Auch während dieser Phase müssen sie ein Tagebuch führen. Mit Ablauf der 10 Tage folgen dann noch 26 Tage ohne Behandlung.
Welche konkreten Ergebnisse erhoffen Sie sich von Ihrer Studie?
Beim Hauptziel unserer Studie geht es darum, die Tage 6 bis 10 der Behandlungsphase mit der Anfangsphase zu vergleichen: Wir hoffen zum einen, innerhalb dieser einen Behandlungswoche einen schmerzreduzierenden Effekt zu sehen und zum anderen, dass dieser langanhaltend, also mindestens auch während der anschließenden 26 Tage ohne Behandlung feststellbar ist. Hierbei erwarten wir, im Vergleich zum Placebo einen guten Unterschied festzustellen, denn der Placeboeffekt – die schmerzlindernde Wirkung des Scheinmedikaments, ausgelöst durch die positive Erwartung des*r Patienten*in – müsste relativ schnell wieder verschwinden.
Was ist das Besondere an AP-325? Wie soll der Wirkstoff gegen neuropathische Schmerzen wirken, inwiefern soll er besser sein als bisher eingesetzte Medikamente?
Eine der Ursachen für das Entstehen von Neuropathien ist ja, dass das ursprüngliche Gleichgewicht zwischen Weiterleitung und Hemmung von Nervenreizen zerstört ist. Genauer gesagt ist bei Nervenschmerzen die Hemmung derart reduziert, dass bereits die leichteste Berührung als schmerzhaft empfunden werden kann. Eine wichtige Rolle hierbei spielt GABA. Vielleicht haben Sie schon mal davon gehört – es handelt sich dabei um einen Botenstoff im Nervensystem, der hauptsächlich hemmend auf die Nervenzellen im Gehirn wirkt. Hier setzt AP-325 an: Seine Hauptwirkung geht vermutlich auf die Veränderung des GABAA-Rezeptors zurück – AP-325 steigert die Wirkung von GABA, sodass man weniger davon für einen sehr starken schmerzhemmenden Effekt benötigt. Viele andere ebenfalls auf GABA beruhende Wirkstoffe wirken auf das zentrale Nervensystem, wodurch oftmals Nebenwirkungen wie Beruhigung, Müdigkeit, Benommenheit oder Schwindel ausgelöst werden. AP-325 hingegen überschreitet die Blut-Hirn-Schranke – eine Barriere, die das Gehirn vor giftigen Stoffen schützt – kaum. Dadurch können wir im peripheren Nervensystem eine recht hohe Menge an schmerzhemmendem GABA aufbauen. Mit anderen Wirkstoffen ist das nicht möglich, weil der/die Patient*in einfach einschlafen würde bzw. nicht mehr funktionsfähig wäre.
Warum wird AP-325 an Patient*innen mit postoperativen neuropathischen Schmerzen erforscht? Eignet sich der Wirkstoff grundsätzlich auch zur Behandlung neuropathischer Schmerzen, die eine andere Ursache haben?
Wir sind mit postoperativem neuropathischem Schmerz eingestiegen, weil diese Betroffenen eine relativ übersichtliche Patient*innengruppe bilden. Zudem ist die Pathophysiologie, also die Ursache für die Schmerzentwicklung, bei dieser Gruppe relativ gut verstanden: Die operierte Stelle und die Stelle, an der Schmerz empfunden wird, sind ziemlich eins zu eins, Dermatome – Hautbereiche, die jeweils von einem Rückenmarksnerv versorgt werden – kann man relativ gut zurückverfolgen. Bei anderen Arten von Nervenschmerz, beispielsweise bei Rückenschmerzen oder beim Komplexen Regionalen Schmerzsyndrom (CRPS), ist die Ursache viel komplexer. Sollten wir die Wirksamkeit von AP-325 bei postoperativen neuropathischen Schmerzen tatsächlich nachweisen können, ist es naheliegend, auch andere Arten des neuropathischen Schmerzes zu erforschen. Das gilt insbesondere für Nervenschmerzen als Folge von Diabetes: Auch hierzu haben wir bei Algiax vorklinisch geforscht und die bisherigen Ergebnisse sehen gut aus.
Wann werden die Ergebnisse Ihrer Studie voraussichtlich vorliegen?
Die Suche nach geeigneten Studienteilnehmer*innen läuft seit etwa einem Jahr. Bisher haben um die 25 Patient*innen ihre Teilnahme abgeschlossen, zwei sind noch mittendrin. Wir hatten natürlich gehofft, dass es etwas schneller vorangeht. Die Coronapandemie war definitiv nicht hilfreich: So hatten beispielsweise einige mögliche Patient*innen Bedenken, in dieser Zeit an einer Studie teilzunehmen. Doch wir haben die ersten Hinweise, dass sich die Situation jetzt ein bisschen lockert und es dann etwas schneller vorangehen wird. Mindestens ein weiteres Jahr werden wir benötigen. Im März/April 2022 wird eine Zwischenanalyse stattfinden, vorausgesetzt, wir finden bis dahin noch 15 Patient*innen. Das ist für uns ein ganz wichtiger Meilenstein: Sollten wir überhaupt keine Unterschiede zwischen der AP-325-Gruppe und der Placebo-Gruppe sehen, beschließen wir möglicherweise, die Studie nicht weiterzuführen. Aber natürlich gehen wir davon aus, dass wir die Effektivität von AP-325 nachweisen bzw. unsere Ziele erreichen können.
Welche Erfahrungen Herrn Dr. Koopmans dazu veranlasst haben, eine wissenschaftliche Laufbahn einzuschlagen, wie ein „typischer“ Arbeitstag bei ihm aussieht – und vieles mehr – erfahren Sie in Teil 2 unseres Interviews.
Postoperative Nervenschmerzen?
Nervenschmerzen können Körper und Psyche zermürben. Sie leiden seit einer Operation an neuropathischen Schmerzen? Wir beraten Sie gern unverbindlich zu einer Studienteilnahme. Hier finden Sie weitere Informationen.
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